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Jugendkultur

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Prof. Max Fuchs

1. Vorbemerkung

Vielen Dank für die sehr warme und animierende Begrüßung. Ich bedanke mich auch sofort damit, dass ich Ihnen mein Gastgeschenk präsentiere: Das sind drei von insgesamt sechs Plakaten einer Kampagne, die eine Sympathiewerbung für kulturelle Bildung sein soll. Denn ich glaube, wir müssen dafür sorgen, dass Kunst, Kultur und insbesondere kulturelle Bildung auch in der Bevölkerung wertgeschätzt werden.
Das ist aber auch das einzige Sinnliche, das ich Ihnen heute mitbringe. Denn meine Themenstellung ist zwar sehr weit. So wäre es möglich, kulturelle Jugendbildung und ihre Notwendigkeit mit guten Argumenten zu begründen. Ich werde das aber nicht tun. Also einmal sind Sie selbst davon überzeugt, sonst wären Sie nicht hier. Zum Zweiten habe ich das hier in Hamburg vor sechs Monaten schon einmal gemacht bei dem Lehrerfortbildungsinstitut. Dort gab es eine Woche der ästhetischen Bildung. Mein damaliger Vortrag steht inzwischen im Netz unter www.ifl-hamburg.de.
Ich möchte Ihnen heute über einige Baustellen berichten, über Dinge, die wir selber erledigen müssen aus der Sicht der kulturellen Bildung, wenn wir mit Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit ins Gespräch kommen wollen. Ich habe gestern bei der Podiumsdiskussion einige Beispiele aus dem bildungspolitischen Gruselkabinett vorgestellt, wie paradox und widersprüchlich in der Bildungspolitik gelegentlich bestimmte Entscheidungen gefällt werden. Es schien so, als ob Hamburg diese Form von Bildungspolitik so ganz fremd auch nicht ist. Aber es ist nicht meine Aufgabe, über Hamburg zu reden.
Man könnte nun einen ähnlich umfangreichen Katalog von gravierenden Paradoxien auch in anderen Politikfeldern wie der Jugend- oder Kulturpolitik finden. Aber ich glaube, dass die Widersprüchlichkeit in der Bildungspolitik besonders stark ausgeprägt ist. Meine These dazu ist, dass die Bildungspolitik hoffnungslos übersteuert ist. Sie ist ausgesprochen fest in der Hand des Staates – sowohl bei der Bereitstellung von Ressourcen, als auch bei der Prüfung der Ergebnisse von Bildungsprozessen, aber auch bei der Festlegung der Prozessabläufe. Es gibt kein anderes Politikfeld, wo man von Anfang bis Ende glaubt, Prozesse in dieser Form eindimensional top down steuern zu können. Das gibt es in der Jugendpolitik schon gar nicht. Auch in der Kulturpolitik ist das staatliche Steuerungsmonopol spätestens seit den 90er Jahren aufgehoben. Ich glaube, der Staat muss seine Vorstellung, wie man einen Bereich steuert, gerade in der Bildungspolitik heftig überdenken. Denn diese Form von eindimensionaler Steuerung ist geradezu eine Garantie dafür, dass Innovation nicht stattfinden kann. Darüber will ich heute aber nur wenig sagen. Ich habe mir Beispiele aus drei Politikfeldern ausgesucht, in denen man etwas tun muss, wenn man die Situation der kulturellen Bildung verbessern will. Denn kulturelle Bildung findet nicht nur in der Schule statt. Sie findet im Zuständigkeitsbereich der Kulturpolitik und sie findet auch in der Jugendpolitik statt. Und deswegen habe ich aus diesen drei Politikfeldern: Schulpolitik, Kulturpolitik und Jugendpolitik Baustellen ausgesucht im Hinblick darauf, was jetzt ansteht und was wir tun können und müssen.


2. Kulturelle Bildung in der Kulturpolitik

Ich komme zunächst zur Kulturpolitik. Man kann zur Zeit von einer Krise der Kulturpolitik sprechen. Man redet gerne und leicht von „Krisen“. Aber wenn man in die öffentlichen Kassen hinein schaut, ist das Wort „Krise“ kaum noch steigerungsfähig, wenn man die jetzige Situation betrachtet. Wobei das allerdings durchaus nicht auf allen Ebenen der öffentlichen Hand gleichermaßen der Fall ist. Auf der Bundesebene hat die Kulturpolitik in den letzten Jahren sogar erhebliche Erfolge erzielt. Man kann das daran ablesen, dass es einen Kulturstaatsminister und erneut einen Kulturausschuss im Deutschen Bundestag gibt. Es gibt inzwischen zudem eine Bundeskulturstiftung, die mit erheblichen Fördermitteln ausgestattet ist. Damit ist sie die größte Stiftung in Europa und ich bin in einem jetzt endlich berufenen Beirat. All das sind Signale dafür, dass zumindest auf Bundesebene die Kulturpolitik einigermaßen gut da steht.
Auf Landes- und kommunaler Ebene sieht das aber anders aus. Ich glaube, die Funktion der Kultursenatorin oder des Kultursenators ist zur Zeit eine der schwersten Aufgaben, die man zu vergeben hat. Denn Kultur ist keine kommunale Pflichtaufgabe. Die schwierige Finanzlage betrifft dabei alle Kulturprojekte und -einrichtungen. Sie betrifft kleine Kultureinrichtungen, weil diese Einrichtungen in ihrer Existenz sofort bedroht sind, wenn man Kürzungen vornimmt. Sie betrifft aber auch die großen Opernhäuser und die Theater, weil sie einen großen Stab haben und diese Form von Kulturarbeit eben auch viel Geld kostet. Gerade die Theater sind ein interessantes Lehrbeispiel. Sie sind als Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert entstanden und dann im 19. Jahrhundert ausgebaut worden. Schon früh zeigte sich aber auch das Problem, dass die Bürger ihre eigene kulturelle Öffentlichkeit nicht so richtig geschätzt haben. Denn es hat eigentlich nie richtig gut funktioniert, dass Bürger ihre eigene Einrichtung unmittelbar selbst fördern. Hamburg ist ein schönes Beispiel. Lessing ist etwa mit der Vision nach Hamburg gekommen, ein ganz neues Theater auszuprobieren, eben ein bürgerliches Theater. Wir verdanken dieser zweijährigen Präsenz seine „Hamburgische Dramaturgie“, eine Analyse dessen, was Theater sein könnte. Doch musste auch er feststellen, dass ein Theater, das nur von Bürgern finanziert wird, scheitert. Deswegen haben gerade innovative Theaterleute immer wieder gesagt, dass wir eine staatliche Finanzierung des Theaters brauchen. Denn nur diese gibt die Garantie, dass das Experiment mit einem neuen und anspruchsvollen Theater funktioniert und man kein Theater machen muss, das dem Massengeschmack hinterherläuft. Diese Problematik ist also uralt. Aber es ändert sich trotzdem heute etwas. Es ändert sich etwa der Tonfall. Ich zitiere aus einem Zeitungsartikel der Berliner Zeitung „Tagesspiegel“. Berlin hat einen Finanzsenator, der kräftige Worte liebt und dieser sagte, dass Intendanten „Hunde an den öffentlichen Futtertrögen“ seien. Im Kulturbereich kennt man die Verwendung von Tiermetaphern gut. Franz Josef Strauß sprach etwa von Ratten im Hinblick auf Heinrich Böll. Da kann man zwar sagen, er hatte insofern einen Grund, als Heinrich Böll sich heftig mit seiner Form von Politik angelegt hat. Die angesprochenen Intendanten legen sich jedoch nicht einmal persönlich mit dem Finanzsenator an, sondern tun nur das, was ihr Job ist: Sie versuchen, ihre Einrichtungen zu erhalten. Das ist also schon ein Signal, wie eine Person des öffentlichen Lebens dies dann etikettiert. Der Chefredakteur der Berliner Zeitung schreibt daher auch: „Das Klima wird rauer. Doch merkwürdigerweise wehren sich nicht die Betroffenen, diskutieren depressiv oder verfassen zusammen mit Gewerkschaften und Kulturdezernenten ein samtpfötig Moratorium“.
Das heißt, wir haben insgesamt ein wegbrechendes Klima für Kultur. Der Konsens, dass Kunst und Kultur in der Gesellschaft ungefragt selbstverständlich sind, verschwindet. Das gilt nicht mehr. Wir stehen in einer zunehmenden Begründungspflicht. An der Stelle muss ich aber sagen: Das wollen wir ja auch, dass die Ausgabe öffentlicher Gelder legitimiert wird. Es ist nicht unanständig nachzufragen, wofür man sie ausgibt. Wir brauchen allerdings eine Offensive, in der dann begründet wird: „Wozu braucht die Gesellschaft die Künste?“.
1994 ist in Berlin das Schillertheater geschlossen worden. Daraufhin hat in der Frankfurter Rundschau Thomas Schmidt, heute der Chefredakteur der Sonntagszeitung, sechs Thesen zum Deutschen Theater veröffentlicht, in denen er beliebte Argumentationsmuster, warum das Theater wichtig ist, bestritten hat. Interessant war daran nicht bloß die kluge Argumentation von Thomas Schmidt, sondern auch, dass er 15 oder 20 Theaterschaffende dazu bewogen hat, darauf qualifiziert zu antworten. Unter anderem natürlich auch Jürgen Flimm. Diese Texte sind unheimlich spannend zu lesen, da sich all die Theaterschaffenden die Mühe machen, die Begründungen, warum Theater in der Gesellschaft nötig ist, zu überprüfen und zu überlegen, ob sie nicht modifiziert werden müssten angesichts der Tatsache wie wenig Leute Theater heute noch erreicht und ob man deswegen überhaupt noch von „gesellschaftlichen Funktionen“ des Theaters sprechen kann. Ich glaube, alle Kunstsparten müssen sich der Pflichtübung unterziehen, durchzudeklinieren, warum die Gesellschaft Tanz, Musik, Bildende Kunst und Theater braucht. Ich glaube, wir finden genügend Argumente. Herr Rauhe hat gestern am Beispiel der Musik einige Hinweise gegeben, in welche Richtung das gehen kann. Es ist also m. E. eine neue Pflichtaufgabe, öffentliche Ausgaben für Kultur etwas handfester zu begründen als bisher. In Hamburg gab es vor zwei Jahren an der Universität eine hervorragende Vorlesung von Ästhetikern unter dem Titel „Wozu Kunst?“. Dort wurde sehr qualifiziert die Frage nach der Funktion und Wirkung von Kunst bei dem Einzelnen und im Hinblick auf die Gesellschaft vor dem Hintergrund neuer Diskussionen in der Philosophischen Ästhetik nicht bloß gestellt, sondern es wurden auch sehr gute Antworten gefunden. Ich betone das deswegen, weil diese Frage nach der Funktion und Wirkung von Kunst in Deutschland aus ideologischen Gründen eher verpönt ist. Man bringt sofort die These von der Kunstautonomie ins Spiel, die scheinbar die Frage nach der Funktion von Kunst für illegitim erklärt.
Das war ein erster Punkt, den ich in der Kulturpolitik sehe.
Jetzt komme ich zur PISA-Diskussion. Ich habe ja schon gestern darauf hingewiesen, dass schon vor PISA die Bildungsdiskussion verengt war, dass man nämlich unter Bildung immer nur Schule, das Kognitive und eine Orientierung an den Bedürfnissen der Wirtschaft verstanden hat. Es ist außerdem daran zu erinnern, das die OECD sich schon einmal segensreich auf das Bildungswesen in Deutschland ausgewirkt hat, nämlich in der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre. Dort hatte die OECD einen Bericht über Deutschland veröffentlicht unter dem plakativen Titel „Bildung mangelhaft“. Es folgten unglaubliche Reformanstrengungen in finanzieller, vor allem aber auch in konzeptioneller Hinsicht. Wenn so etwas noch mal entstehen könnte, dann wäre das nicht schlecht. Durch PISA ist allerdings bisher nicht eine solche Reformanstrengung entstanden, sondern durch den politischen und medialen Umgang mit der Studie ist es zu einer weiteren Verengung gekommen. Dabei ist Lesen als Grundkompetenz völlig unbestritten. Lesen ist natürlich die fundamentale Kulturtechnik, und PISA beweist, dass auch naturwissenschaftliche und mathematische Kenntnisse auf das engste mit Lesekompetenzen zusammenhängen. Bei der Mathematik und den Naturwissenschaften wird man allerdings schon ein bisschen länger diskutieren können, welche Überlebensrelevanz sie etwa im Vergleich zur Politik, zur Wirtschaft, aber auch zu den Künsten haben. PISA selbst ist eine so hervorragende Untersuchung, dass man durchaus darüber nachdenken kann, wie ein „Kultur-PISA“ aussehen könnte.
Wir fragen uns daher, was heißt denn „Messbarkeit“ im Bereich der kulturellen Bildung. Dass das nicht dasselbe sein kann wie in der Mathematik, ist klar. Aber welche Methoden gibt es denn? Denn die Tatsache, dass man irgendwie nachweisen müsste, dass bei dem pädagogischen Gebrauch der Künste etwas mit dem Menschen passiert, liegt auf der Hand. Durch PISA wurde nun allerdings die Aufmerksamkeit so stark auf die drei genannten Fächer gelenkt, dass kaum noch Ressourcen für andere Kompetenzfelder übrig bleiben.

So hat der Bund deutscher Kunsterzieher jetzt eine Eingabe an die KMK gemacht mit dem Ziel, die Rolle der Bilder in unserem täglichen Umgang zu berücksichtigen. Denn neben der sprachlichen Weise, in der wir miteinander umgehen und wie wir „Welt“ beschreiben, ist das Bildhafte – natürlich auch durch die Medien – in den Vordergrund gerückt. Die Neurowissenschaften zeigen, dass es sich dabei um unabhängige Dispositionen handelt. Insofern ist die Forderung nach einer Verstärkung der Bemühungen um Bildkompetenz, die der Bund deutscher Kunsterzieher jetzt formuliert hat, auf das nachhaltigste zu unterstützen. Leider haben wir bei diesen Problemen bei Partnern oder bei Institutionen, die Partner sein könnten, keine Unterstützung. So gibt es etwa rund um das Bild und seine Theorie eine Wissenschaft mit langer Tradition, etwa die Kunstgeschichte. Ich lese Ihnen aus einem Bericht über den Kunsthistorikertag, der kürzlich in Leipzig stattgefunden hat, vor: „In Leipzig zeigte sich einmal mehr, dass das Instrumentarium der Kunstgeschichte besonders geeignet ist, Probleme zu analysieren, die traditionell eher an den Rändern des Beschäftigungsfeldes stehen.“ Ich ergänze: die aber in der Mitte der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sind. Gemeint ist die Rolle der Bilder etwa im politischen Gebrauch. Aber die Kunstwissenschaft weigert sich in ihrem harten Kern, sich auf diese aktuelle Anforderung einzulassen und diskutiert die Frage, ob sie sich zu einer modernen Bildwissenschaft entwickeln oder das kunsthistorische Geschäft wie bisher weiter betreiben soll.
Es ist noch nicht entschieden, in welcher Weise sich diese Disziplin, die ja zum weiten Feld der Kunst und Kultur gehört, entwickelt. Das heißt, wir hätten eigentlich einen guten Partner, doch ist dieser Partner widerborstig und entzieht sich dem, was wir und die Gesellschaft brauchen. Also auch hier haben wir das Problem, dass es „Oasen“ gibt, die ihren gesellschaftlichen Aufgaben nicht mehr entsprechen und sich damit langfristig den Boden der Legitimität entziehen. Denn irgendwann wird man auch fragen, ob eine solche Wissenschaft, die sich aktuellen Zeitfragen entzieht, in dem Maße noch öffentlich gefördert werden soll wie bisher.
Sie merken, ich beklage mich nicht über uneinsichtige Finanzsenatoren, sondern ich zeige mit dem Finger auf uns selbst, weil ich glaube, dass wir mehr leisten könnten und auch mehr leisten müssen.


3. Kulturelle Bildung in der Jugendpolitik

Jugendpolitik ist für die kulturelle Bildung eher wichtiger als die Kulturpolitik. Ganze Strukturen im Bereich der kulturellen Bildung werden in der Regel nicht von kulturpolitischen Haushaltstöpfen gefördert, sondern im Bereich der Jugendpolitik, so etwa viele große Verbände wie die Musikverbände, z. B. der Verband deutscher Musikschulen. Die Jugendpolitik ist also für die kulturelle Bildung ausgesprochen wichtig. Ich sage das deswegen so deutlich, weil das in der Kulturpolitik ziemlich oft übersehen wird.
Zwei Themen sind es, die die kulturelle Bildung berühren, und beide sind auch gestern angesprochen worden: Nämlich die Frage nach der Entwicklung der Kindergärten und die Entwicklung der Jugendarbeit. Bei Kindergärten muss man – auch wieder unter Nutzung der Neurowissenschaften – darauf bestehen, wie wichtig es ist, ästhetische Frühförderung zu betreiben. Kinder sind unglaublich lernbereit schon in ganz frühem Alter und sprechen gut auf künstlerische Arbeitsformen an. Sie wollen sich bewegen, sie wollen musikalisch gestalten, sie wollen mit ihrem Körper etwas machen und sie wollen bildlich gestalten. Das muss man nutzen. Die Diskussion, die jetzt durch PISA ausgelöst wird, birgt allerdings die Gefahr, die Kindergärten zu funktionalisieren für eine vorschulische, bloß kognitiv orientierte Instruktion. Es ist natürlich legitim, dass man versucht, Defizite frühzeitig zu beseitigen. Und ich glaube auch, dass der Kindergarten, wie die Jugendhilfe insgesamt, einen Bildungsauftrag hat. Das Problem ist jedoch die Art und Weise, wie man mit Kindergärten umzugehen beabsichtigt: Es besteht die Gefahr, dass Formen von spielerischem Lernen verloren gehen. Aber Schuld sind auch bei dieser Problematik wieder nicht nur die anderen, sondern Schuld sind auch die Träger der Jugendhilfe selbst. Diese hat sich nämlich jahrelang nicht darum gekümmert, ihren eigenen Bildungsauftrag als solchen zu formulieren. Das Wort „Bildung“ war im Kontext der Jugendpolitik und Jugendhilfe eher verpönt. Das Problem hierbei ist, dass man in der Jugendhilfe denselben Fehler macht, den ich oben beklagt habe: man assoziiert „Bildung“ ausschließlich mit Schule und sagt „Schule hat mit Jugendhilfe nichts zu tun“. Das ist zwar richtig, doch weiter führt eine Strategie, die etwa das Bundesjugendkuratorium in den letzten zwei Jahren eingeschlagen hat. Dort wird Bildung als Lebenskompetenz beschrieben. Wenn Sie Bildung als Lebenskompetenz begreifen, dann sehen Sie sofort, dass ein zentraler Bildungsort die Familie ist, dass ein weiterer zentraler Bildungsort auch der Kindergarten ist, dass zentrale Bildungsorte die außerschulischen Einrichtungen sind. Denn was anders als Lebenskompetenz wird dort erworben? Das ist ein Mangel in der Jugendhilfe, und er betrifft auch die Jugendarbeit, also das, was man dann mit älteren Kindern und Jugendlichen macht. Es fehlt an einer selbstbewussten Klärung, worin die Spezifik der außerschulischen Pädagogik besteht. Diese ist dadurch entstanden, dass man in Deutschland ein Halbtags-Schulwesen hatte und man diese Chance nutzte, indem man eine spezifische Art und Weise entwickelt hat, mit den Kindern umzugehen. Man musste diese auch entwickeln wegen des Prinzips der Freiwilligkeit. Das hatte zur Folge, dass die Angebote attraktiv gestaltet sein mussten. Und das trug sehr dazu bei, dass man eine subjektbezogene Pädagogik entwickelte. Diese ist in weiten Feldern der außerschulischen Jugendarbeit entstanden, und ich glaube, die Schule könnte von dieser spezifischen pädagogischen Professionalität heute profitieren. Das heißt u.a., dass man an den Interessen der Kinder und Jugendlichen anknüpft, sonst kommen die nämlich nicht mehr. Und man muss etwas vermeiden, was die PISA-Studie über das deutsche Schulwesen sagt. Diese spricht nämlich von einer „strukturellen Demütigung“, die die Schule den SchülerInnen zufügt. Das geschieht durch die Art und Weise, wie permanent nicht gefördert wird, durch die Art und Weise, wie Leistungsdruck praktiziert wird. All das darf in der Jugendarbeit gar nicht sein, sonst funktioniert sie schlicht und einfach nicht. Jugendarbeit setzt vielmehr an den Stärken an und dokumentiert nicht ständig die Schwächen und Defizite. Es muss alles durch die Eigeninitiative desjenigen geschehen, der selbst aktiv wird. Man kann dies erschweren, man kann es aber auch erleichtern. Deswegen ist „Selbststeuerung“ in der PISA-Fallstudie, die vor drei Wochen veröffentlicht worden ist, ein zentrales Thema. Und genau das geschieht in der Jugendarbeit. Wir haben dies gestern an einer Fülle von Beispielen gesehen. Die Schule kann von der Jugendarbeit lernen, dass man eine andere Form von Leistungsorientierung praktizieren kann. Es gibt eben nicht nur die Form von schulischer Leistung, die durch Zensuren dokumentiert wird, die durch Tests abgefragt wird. Sondern es sind andere Formen von Leistungsfähigkeit, von Energie, von Sich-Einbringen, von Selbststeuerung. Und dieses „Andere“, das ist es, das auch die Schule braucht.

4. Kulturelle Bildung in der Bildungspolitik

Auf die PISA-Studie kann man aus der Sicht der außerschulischen Pädagogik nur mit Neid blicken. Leider hat sie einige Nebenfolgen, an denen sie selbst gar nicht Schuld ist. Also erstens kann sie nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wie mit ihr umgegangen wird. Es gibt jedoch noch ein ganz eigenartiges weiteres Folge-Problem. Ich habe vor drei Tagen in dem Verbandsorgan der Landesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel in der Schule von Niedersachsen einen Artikel gefunden. Darstellendes Spiel gibt es in acht oder neun Bundesländern als reguläres Schulfach. Ich lese Ihnen den Abschnitt vor, der sehr schön zum Ausdruck bringt, welches Problem PISA uns bereitet: „Inzwischen haben mehr als siebzig niedersächsische Schulen mit gymnasialer Oberstufe Darstellendes Spiel als drittes musisch-künstlerisches Fach im Aufnahmefeld A eingeführt. Weiterhin gilt allerdings, dass Darstellendes Spiel bisher nur im Bundesland Hamburg als Prüfungsfach angeboten wird. Die KMK hat zwar einen Ausschuss eingesetzt, der prüfen soll, ob Darstellendes Spiel im Rahmen der folgenden Rahmenrichtlinien ein vergleichbares Anforderungsprofil aufweist wie die Fächer Kunst und Musik. Die Situation nach PISA hat aber zur Folge, dass in der KMK zur Zeit die Anforderungsprofile für die Sprachen und den mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich im Vordergrund stehen, so dass kurz- und mittelfristig mit einer Entscheidung für Darstellendes Spiel als Prüfungsfach nicht zu rechnen ist.“
Das ist ein Beispiel für das, was ich selbst häufig erlebe: PISA verdrängt die Diskussion aller anderen Fächer und Probleme. Diese rücken alle in ihrer Bedeutsamkeit in den Hintergrund. Dazu gehören die künstlerischen Fächer in der Schule. Es gehören aber auch Gesellschaftswissenschaften, Geschichte und Sport dazu. Alle diese Fächer sind im Moment nicht mehr relevant, weil PISA und die Konzentration auf die drei PISA-Fächer alle Ressourcen verbraucht: Geld, alle Zeitkapazitäten und Forschungsenergien fließen im Moment in PISA. Alle Zeitbudgets, etwa in der Bildungsforschung, werden von PISA blockiert. Wir versuchen zwar immer wieder, kulturelle Bildung ins Gespräch zu bringen. Es gibt z. B. seit drei Jahren den BLK-Modellversuch „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“. Doch kommen wir immer wieder an Grenzen. Es werden zwar vermehrt Bildungsforschungsgruppen eingerichtet, aber eben nur entlang der drei PISA-Fächer. In dieser Situation werden wir dann gefragt, wo denn unsere Studien zur Wirksamkeit der Künste sind, wo die wissenschaftlich aufbereiteten Beispiele einer gelingenden Zusammenarbeit von Schule und Kulturarbeit sind. Es gibt jedoch kaum derartige Forschungsergebnisse, weil wir überhaupt keine Ressourcen haben, um nur annähernd den PISA-Standard zu erfüllen. Also auch das ist keine unmittelbare Schuld der PISA-Autoren, sondern es ist eine Folge der bildungspolitischen Konsequenzen: Die künstlerischen Fächer bleiben außerhalb der Aufmerksamkeit. Das Problem ist, dass kein Ende abzusehen ist. Es wurde gestern gesagt, dass im Moment die Erhebungen für die nächste PISA-Studie laufen. Dabei geht es um Mathematik. Dann gibt es eine übernächste PISA-Stufe. Das heißt, PISA zieht sich in der jetzigen Konstruktion bis 2008/2009 hin, und bis dahin werden alle Mittel für diese drei PISA-Fächer blockiert.
Wir versuchen übrigens in der nächsten Auflage von PISA insofern mitzuwirken, als eines unserer Projekte das Thema „Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung“ hat. Dabei geht es u. a. um Selbststeuerung von Lernen, dabei geht es um Sozialkompetenzen, und es könnte sein, dass ab 2010 diese Kompetenzen im Mittelpunkt stehen. Ich weiß aber nicht, ob wir so lange warten können.

Was können wir tun?
Also erstens denke ich, müssen wir versuchen, mit solchen Plakaten und Slogans, wie sie die Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung unter dem Motto „Kultur öffnet Welten“ zur Zeit anbietet, Einfluss zu nehmen auf das öffentliche Bewusstsein. Wir brauchen noch mehr solcher Kampagnen, die den Wert der Künste hervorheben.
Zweitens müssen wir unsere eigenen Abwehrrituale abbauen. Wir brauchen eine offene Diskussion über Wirkung und Funktionen von Künsten und auch von kultureller Bildung. Und wir brauchen auch so etwas wie eine Evaluation unserer Arbeit.
Drittens: Wir müssen ein solidarisches Verhalten unter uns haben. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, das kein Familienkrieg etwa zwischen Bildender Kunst und Theater darüber ausbricht, welche Kunstform am besten bildet. Das heißt, dass die Partikularinteressen etwa aus der Musik oder dem Theater nicht so stark werden dürfen, dass die anderen Kunstsparten keine Chancen mehr haben.
Viertens: Wir brauchen eine Verstärkung der kulturpädagogischen Forschung. Wir betreiben bislang Forschung fast ehrenamtlich. PISA-Standards können wir zwar nicht erreichen. Aber wir können Akzente setzen und zeigen, so könnte es gehen.
Und fünftens brauchen wir die Dokumentation von Projekten einer gelingenden Zusammenarbeit von Schule und Jugendarbeit, bei der die Spezifik der außerschulischen Pädagogik erhalten bleibt.

Vielen Dank!

Literaturhinweise

Viele relevante Texte – u. a. Analysen der verschiedenen PISA-Studien – finden sich auf den Homepages der Akademie Remscheid (www.akademieremscheid.de, Publikationen) und der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (www.bkj.de).

Der Autor:
Fuchs, Max; Prof. Dr.; Erziehungs- und Kulturwissenschaftler; Direktor der Akademie Remscheid; Vorsitzender des Deutschen Kulturrates, der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung und des Instituts für Bildung und Kultur; zahlreiche Publikationen zur Theorie und Praxis von Bildung und Kultur.


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